Von der Fischkiste zum Forschungsschiff

Die Baunummer 1, eingetragen am 10. Oktober 1898 als erster Auftrag im Geschäftsbuch der Yacht- und Bootswerft Johannes Schlichting, war eine Fischkiste. Keine kleine Kiste, wie man sie vielleicht heute kennt. Um Fische nach dem Fang lange frisch halten zu können, wurden sie in große Holzkisten gesperrt, die im Hafenbecken fest vertäut waren. Dort schwammen die Fische, bis ein Käufer gefunden war. Die Werkstatt, in der Johannes Schlichting zusammen mit seinem Bruder Heinrich die ersten Aufträge bewältigte, war nicht größer als 70 Quadratmeter. Sie musste erst in dem neu erworbenen Haus in der Marktstraße 19, gleich gegenüber der Travemünder Kirche, errichtet werden. Die Grundstücke in der heutigen Jahrmarktstraße waren bis in die 30er-Jahre Wassergrundstücke. Der Baggersand war noch nicht aufgeschüttet und die Siechenbucht, als Teil der Trave, ging bis an den Gartenzaun der neuen Werft. Eine kleine Slipanlage führte in das seichte Wasser und brachte die ersten Aufträge an Land. Hauptsächlich Reparaturen an Fischerbooten aus Schlutup und Travemünde, aber auch schon erste Neubauten wie Beiboote, Sandkähne und Anfang 1900 die ersten beiden Segelyachten liefen hinter dem Marktplatz vom Stapel. Zur Belegschaft gehörten neben Johannes Schlichting und seinem Bruder Heinrich auch Stellmacher Jean Kruse und ein erster Lehrling. Schon nach kurzer Zeit entdeckten die Eigner kleinerer und größerer Yachten aus dem Lübecker Yacht Club die Qualitäten der Schlichting-Werft, doch ihre oft tiefgehenden Schiffe konnten nicht über das flache Wasser ins Winterlager der Werft gelangen. In einem Brief schrieb der Vorstand des Lübecker Yacht Clubs an die Lübecker Stadtverwalter und bat um ein neues Grundstück für Johannes Schlichting und seine Werft. Das wurde schnell gefunden, genau gegenüber auf dem Priwall neben der Fähre. Dort war durch Sandaufschüttung neues Land entstanden und die Werft zog 1905 auf den Priwall.

Aber nicht nur die Lübecker Segler suchten für ihre kleinen und großen Yachten eine geeignete Werft und für den Winter ein sicheres Lager. Kieler und Hamburger Yachten kamen immer öfter nach Travemünde und das nicht nur zur Travemünder Woche. Johannes Schlichting musste seine Werft diesen neuen Bedürfnissen anpassen und ständig erweitern. Eine Wellblechbude mit einem Feuer und einer Bohrmaschine für Schmiede- und Schlosserarbeiten wurde errichtet und eine erste Kraftmaschine mit 10 PS trieb in der Tischlerei eine Bandsäge und einen Dicktenhobel an. Eine Dynamomaschine sorgte für elektrisches Licht und ersetzte die vielen Petroleumleuchten auf dem Werftgelände. Der Bau von Arbeitsbooten, Rettungsbooten, kleinen Yachten und Jollen sicherte immer mehr Travemünder Handwerkern ein sicheres Einkommen und die Belegschaft der Schlichting-Werft erarbeitete sich ein exzellenten Ruf weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die von Johannes Schlichting selbst konstruierte „Nationale Jolle“ mit dem Namen „Ahasaver“ ersegelte in nur einer Saison auf 23 Regatten den Sieg und unterstrich die Qualität der auf der Werft gebauten Yachten.

Es folgte der 1. Weltkrieg und die erste schwere Krise für die Werft. Johannes Schlichting und fast die gesamte Belegschaft wurden zum Kriegsdienst an der Front eingezogen. Nur sein Bruder Heinrich zusammen mit wenigen Bootsbauern durfte zur Arbeit auf der Werft bleiben. Doch schon 1915 kehrte Johannes Schlichting mit einem Eisernen Kreuz ausgezeichnet zurück, beurlaubt vom Krieg, um Boote für die Kaiserliche Marine zu bauen. Durch den großen Bedarf an kleineren Fahrzeugen der kriegsgestärkten Marine mussten sogar zusätzlich Bootsbauer eingestellt werden. Doch der künstlichen Kriegskonjunktur folgte nach der Kapitulation im Deutschen Reich der wirtschaftliche Zusammenbruch und es begannen schwierige Zeiten für den Schiffbau und die Schlichting-Werft.

Die Rettung nach dem 1. Weltkrieg brachten im wahrsten Sinne des Wortes große Aufträge zum Bau von Rettungsbooten. In den Zwanzigerjahren wurden gut 225 Stück davon auf der Werft gebaut. Darunter auch erstmalig Motorrettungsboote für große Reedereien mit einem Fassungsvermögen von 50 Personen. Erst schleppend in den Zeiten der Inflation, später immer stärker, kam auch der Yachtbau auf dem Priwall wieder in Schwung und führte die Schlichting-Werft zu neuer Blüte. Aus den Erfahrung der schweren Jahre zuvor machte Johannes Schlichting seine Werft kaufmännisch krisensicherer und baute eine neue Winterlagerhalle mit 65 Meter Länge und 34 Meter Breite und konnte nun seinen vielen Yachtkunden endlich ein überdachtes Winterlager bieten. Die etwa 100 Meter lange Halle F folgte Ende der Zwanzigerjahre. Yachten bis 26 Meter Länge und 80 Tonnen Gewicht konnten über die beiden Slipanlagen und ein verbundenes Schienensystem untergebracht werden. Die auf der Schlichting-Werft gebauten Yachten waren von hoher handwerklicher Qualität und galten als schnell und seegängig. Schiffsnamen wie „Susewind“, Teilnehmerin eines Atlantikrennens 1936, „Kapitän Harm“, eine Kreuzeryacht von 16,75 Metern und 180 Quadratmeter Segelfläche, oder „Thalata“, die dem damals sehr bekannten Segler Adolf Kirsten gehörte, trugen den Namen Schlichting weiter in die Welt. Eigner vom Bodensee bis Flensburg kamen nach Travemünde, um sich ihr Schiff bei Johannes Schlichting bauen zu lassen. Die größte Yacht dieser Zeit war die „Ingorata“ mit mehr als 18 Meter Länge und 185 Quadratmeter Segelfläche. Sie segelt noch heute frisch renoviert vor Warnemünde.

Es folgte die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre. Sie ging weder an Travemünde noch an der Schlichting-Werft spurlos vorbei. Seit 1924 in der Firma, arbeitet Rudolf Schlichting mit seinem Vater Johannes Hand in Hand, um den Betrieb trotz der Wirtschaftsflaute aufrechtzuhalten. Die Belegschaft war zwischenzeitlich auf 40 Mitarbeiter zusammengesunken. Wieder waren es Aufträge für Rettungsboote, die der Werft gerade rechtzeitig die Rettung brachten und sie vor dem Schlimmsten bewahrten. Die durch den Nationalsozialismus stark wachsende Marine brachte weitere große Aufträge. Die Luftwaffe und die Erprobungsstelle auf dem Priwall brauchten Sicherungsboote, die Marine Minenräum- und Schnellboote und die Kapazitäten der Werft mussten für die Kriegsmaschinerie schnell wachsen. Das Werftgelände wurde in den Jahren 1936 und 1937 auf 28.500 Quadratmeter fast verdoppelt, davon waren 13.000 Quadratmeter mit Hallen überbaut. Von 1943 bis 1945 war die Werft auf dem damaligen Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Alle 14 Tage verließ ein Schnellboot die Werft, insgesamt waren es 50 Einheiten. Komplett aus Holz gebaut, mit einer Länge von 35 Metern und drei Maschinen mit je 3.000 PS, war für die Boote eine ungeheure Logistik auf der Werft nötig. Rudolf Schlichting, der 1943 die Leitung der Werft von seinem Vater übertragen bekommen hatte, suchte selbst das Holz in den Wäldern zum Bau der Schiffe aus, während Johannes Schlichting auf der Werft die Arbeiten überwachte. Viele Werftmitarbeiter wurden zur Front eingezogen, ihr Fehlen mit Fremdarbeitern aus ganz Europa aufgefüllt. Zeitweise arbeiteten fast 1.000 Menschen auf der Schlichting-Werft.

Im Mai 1945 kam auch der Zusammenbruch des Dritten Reiches in Travemünde und mit ihm kamen die Engländer als Besatzer. Schon im Juni 1945 erhielt Rudolf Schlichting die Erlaubnis, wieder 50 Mann einstellen zu dürfen, um zunächst einmal den Betrieb aufzuräumen und liegen gebliebene Kriegsarbeiten zu beseitigen. Wieder war es der Bau von Rettungsbooten, der in der schweren Krise Hoffnung auf neue Arbeit machte, und es waren die Besatzer selbst, die dafür den Auftrag gaben. Nach den vielen rastlosen Jahren Arbeit auf der Werft verstarb Johannes Schlichting 1946 im Alter von 75 Jahren und wie es das Schicksal wollte, durch eine Krankheit auch sein Sohn Rudolf Schlichting im September desselben Jahres. Ohne wirtschaftliche Perspektive standen Werft und Familie praktisch vor dem Nichts. Der Mangel an Schiffbauaufträgen wurde teilweise mit Arbeit als Karosseriebaubetrieb überbrückt, aber nach dem Brand einer Halle eingestellt. Nach fünfzig Jahren Holzbootbau war der Anschluss an den Stahlschiffbau nicht rechtzeitig eingeleitet worden, was die Auftragslage noch erschwerte. Ausgerechnet der erste auf der Schlichting-Werft aus Stahl gebaute kleine Frachter „Antonia“ führte zu einer großen finanziellen Schieflage der Werft, da der neue Reeder nicht zahlen konnte. Thekla Schlichting mit ihren Söhnen Peter und Klaus musste am 25. September 1953 Vergleich anmelden. Das Verfahren zog sich bis 1954 hin, als der Hamburger Unternehmer und Schiffbau-Ingenieur Alnwick Harmstorf die Schlichting-Werft kaufte. Damit ging nicht nur die Ära der Schlichtings auf der Schlichting-Werft zu Ende, einzig Peter Schlichting arbeitete als Leiter der Marineabteilung bis zum endgültigen Ende 1986 auf der Werft, auch die Werft wandelte ihr Gesicht zu einer der modernsten Werften Europas.

Ihr Areal wuchs auf fast 140.000 Quadratmeter. Massengutfrachter, Stückgutfrachter, Forschungsschiffe, Spezialschiffe und wiederum Marineschiffe wurden nun industriell auf höchstem Niveau gefertigt. Die Stapelläufe von den 180 Meter langen Helgen, auf denen die bis 30.000 tdw großen Frachter gebaut wurden, waren nicht nur für Travemünder jedes Mal ein Ereignis. Der Schiffbau auf der Schlichting-Werft gehörte genauso ins Stadtbild von Travemünde wie die Kirche und später das Maritim.